Mittwoch, 9. Oktober 2019
Herbstfeuer

Winterzeit ist Kuschelzeit!
johlen die Bäume
betrunken vom Regen
und werfen die festiven
Kleider vom Leib

Doch weil keiner kommt
und sich an ihnen reibt
außer der Wildsau, der groben
ziehen sie schließlich
nach einem frostigen Tänzchen
im Frühjahr sich wieder an



Dienstag, 8. Oktober 2019
Blutiger Tau

Dort draußen vor deinem Fenster haben zwei streunende Katzen die Liebe gefunden. Ihre Zweisamkeit klingt wie der verzweifelte Schrei eines Neugeborenen.

Ich lösche deine Nachttischlampe und ziehe mir das Shirt über den Kopf. Als ich es neben dem Bett auf den Boden werfe, knipst du das Licht wieder an.
"Nicht.", flehe ich leise und bedecke meinen Nabel mit den Händen. Deine Hand jedoch hat schon sterbende Haut am Oberarm entdeckt, die silbrig auf roten Hügeln darauf wartet, im Schlaf zu blutigem Tau gekratzt zu werden. Deine Finger werden sich noch an diese Berührung erinnern, wenn mein Arm sie schon lange vergessen hat.
"Schuppenflechte", erkläre ich.
"Hatte einer in der Grundschule auch", sagst du ruhig und küsst meine Armbeuge, "als Kind dachte ich, der Junge verwandelt sich langsam in einen Fisch."
Meine Augen wühlen in deinem Gesicht nach Indizien von Spott und Ekel. "Leider nicht ganz so romantisch", sage ich schließlich. "Schwimmunterricht war die Hölle."
"Außerdem", setzt du an, klaust mir die Decke und wickelst deinen Unterleib fest darin ein, "habe ich als Kind im Bett so getan, als sei ich eine Meerjungfrau, oder Meerjungmann, wie auch immer die heißen, siehst du? Hinkoinkoink!"
Deine Imitation eines Seehunds sieht aus wie ein epileptischer Anfall und klingt wie Asthma. Grinsen muss ich trotzdem.
"Hey". Du küsst das Grinsen an einem seiner Enden. "Deine Schuppen bringen mich näher an die Erfüllung meines Kindheitstraums als ich mir je zu wünschen gewagt hätte".
Dann greifst du über mich und angelst etwas vom Nachttisch, hast plötzlich den Deckel eines Filzstifts zwischen den Zähnen.
"Lass uns”, nuschelst du und schiebst den Deckel mit den Zähnen auf die Hinterseite des Stifts, “den Dingern Namen geben, ja?"
Du wartest keine Antwort ab, schreibst schon 'Walburga' neben die Rötung am Ellbogen. "Was einen Namen hat, verbreitet weniger Kummer und Schrecken. Und wenn die Kollegen alle benannt sind, will ich jeden einzelnen besuchen und mich ordentlich vorstellen."
Du drückst auch mir einen Stift in die Hand, unter der das silbrige Rot meines Nabels zum Vorschein kommt.
"Das ist 'ne Agnes", urteilst du. “Agnes”, schreibe ich auf meinen Bauch.

Als es draußen dämmert, sind wir beide nackt und mein Körper unter deinem sieht aus wie eine Landkarte. Die verliebten Katzen vor dem Fenster haben zu schreien aufgehört und sind verschwunden. Ich frage mich, wohin ihre gemeinsame Reise führen wird, und welche Abenteuer da draußen auf sie warten.



Sonntag, 6. Oktober 2019
Glasmilch /// Milk of Glass

Als Kind hab ich an Ampeln wartend
von Zehn zu Null herabgezählt
Denn wer glaubt, eine Fee holt den Milchzahn vom Kissen
und lässt Münzen darauf als Ersatz
und dass Tote nicht Erde sondern Engel werden
der hält auch für denkbar
der weiß, es ist machbar
Stehen in Gehen verzaubern zu können
mit dem Kopf erhoben voran

Heute morgen um viertel nach Fünf
vergaß ich endlich dein Gesicht
und auch dein Lachen ertrank in Weiß
Nur noch Konturen hinter milchigem Glas

Dann in der Stadt
an der Ampel natürlich
Wind in Markisen
weht dich vertraut
aus irgendeiner Achsel
von irgendeinem Hals
aus irgendeinem Schritt

Und deine Augen zurück in alle Gesichter
dein Lachen in jeden Mund
Im Herbst tragen sie oft schwarze Mäntel
Jeder Blonde ein Irrtum von Wiedersehen

Ich geh nicht mehr raus
Starre still an die Wände
Und zähle von Zehn herunter zur Null

///

As a child I used to count down from ten
whenever waiting for red lights to switch
Believing
a fairy would take my milk teeth
and leave a handful of coins in their place
and that the dead don't decay but become angels instead
I considered it possible
I knew it was doable
turning standstill to movement
headfirst

This morning at a quarter past five
your face had finally escaped my mind
and your laughter as well drowned in white
only a silhouette behind milk glass remained

But then back in town
at a red light of course
wind in the awnings
blew familiar scents
from under somebody's arms
from somebody's neck
out of somebody's lap

Blew your eyes back in everyone's faces
your laughter returned to their throats
In autumn they all prefer to wear black
Every blonde a mistaken reunion

I won't go outside
I'll just stare at the walls
and quietly count down from ten