Glasmilch /// Milk of Glass

Als Kind hab ich an Ampeln wartend
von Zehn zu Null herabgezählt
Denn wer glaubt, eine Fee holt den Milchzahn vom Kissen
und lässt Münzen darauf als Ersatz
und dass Tote nicht Erde sondern Engel werden
der hält auch für denkbar
der weiß, es ist machbar
Stehen in Gehen verzaubern zu können
mit dem Kopf erhoben voran

Heute morgen um viertel nach Fünf
vergaß ich endlich dein Gesicht
und auch dein Lachen ertrank in Weiß
Nur noch Konturen hinter milchigem Glas

Dann in der Stadt
an der Ampel natürlich
Wind in Markisen
weht dich vertraut
aus irgendeiner Achsel
von irgendeinem Hals
aus irgendeinem Schritt

Und deine Augen zurück in alle Gesichter
dein Lachen in jeden Mund
Im Herbst tragen sie oft schwarze Mäntel
Jeder Blonde ein Irrtum von Wiedersehen

Ich geh nicht mehr raus
Starre still an die Wände
Und zähle von Zehn herunter zur Null

///

As a child I used to count down from ten
whenever waiting for red lights to switch
Believing
a fairy would take my milk teeth
and leave a handful of coins in their place
and that the dead don't decay but become angels instead
I considered it possible
I knew it was doable
turning standstill to movement
headfirst

This morning at a quarter past five
your face had finally escaped my mind
and your laughter as well drowned in white
only a silhouette behind milk glass remained

But then back in town
at a red light of course
wind in the awnings
blew familiar scents
from under somebody's arms
from somebody's neck
out of somebody's lap

Blew your eyes back in everyone's faces
your laughter returned to their throats
In autumn they all prefer to wear black
Every blonde a mistaken reunion

I won't go outside
I'll just stare at the walls
and quietly count down from ten




am 06.Okt 19  |  Permalink
Schön. Traurig.

wut_antrinken am 06.Okt 19  |  Permalink
Vorteil von grauen Tagen: Es regt sich der junge Goethe in der Brust!
Dank dir. Ja, traurig, irgendwie war mir gestern danach.

am 06.Okt 19  |  Permalink
Ich bin ausgestiegen aus dem Deprizug … und habe am Bahnhof meinen Koffer mit Wackersteinen stehen lassen, mich ins Cafe gesetzt, ganz entspannt im Hier und Jetzt meinen Crematorio getrunken und dem aufgeregten Theater zugeschaut, das rund um den Koffer entstanden ist … ;)

wut_antrinken am 06.Okt 19  |  Permalink
Neulich fand man im Zug einen UNBEGLEITETEN KOFFER und das Theater war herrlich. Bis sich herausstellte, dass der Koffer gar nicht unbegleitet war, sondern sein Besitzer sich bloß auf dem Klo eingesperrt hatte. Sein Klopfen und Schreien hatte keiner bemerkt in dem Tumult.

c. fabry am 06.Okt 19  |  Permalink
Sehr erschütternd und sehr poetisch.

wut_antrinken am 06.Okt 19  |  Permalink
Lyrik ist eigentlich mein Endgegner. Aber gestern war so ein Scheißdrauf-Tag, und wenn man jetzt schon ein Blog hat und regelmäßig schreibt, kann man ja dann und wann auch mal was wagen, dachte ich mir.

dreadpan am 06.Okt 19  |  Permalink
Ausgezeichnet! Dieses Herabzählen zur Null mit dem magischen Denken von Kindern zur erklären bzw. zu verklären ist ein interessanter Kunstgriff. Stehen in Gehen verzaubern. Dabei ist das voll monoton, das lyrische Kinderich hätte sich ja auch in Tagträumen verlieren können und dann erst bei dem dritten grün oder so gehen. Oder bei rot und dann zum Engel werden. Das Runterzählen ist total funktional, im Erwachsenenleben hat man noch viel öfter Verwendung für solche abstrakten Mantren, wenn die Langweile und das Abwarten so groß werden, dass man nur noch die Alternative zwischen Amok und bis Null zählen hat. Aber hier scheint mir das magische Denken dem Herunterzählen einen Hauch magischer Hoffnung verliehen zu haben. Wenn auch nur einen ganz ganz winzigen Hauch, und am Schluss verwandelt sich die Magie in eine schwarzmagische düstere Beschwörung von ... ja von was? Dem Dämon der Hoffnungslosigkeit? Gleichgültigkeit? Taubheit? Vergessen? Irgendwie sowas. So wirkt das Gedicht auf mich. Natürlich liest das meine Depression da nur rein, aber so is das halt mit Lyrik und Melancholilkern. ;)

wut_antrinken am 06.Okt 19  |  Permalink
Ich zähle heute noch an Ampeln runter und wenn es hinhaut, denke ich mir: "Fickt euch alle, ich bin Gott!"
Für mich gings um den Prozess der Heilung nach einem Verlust, Trennung oder Tod war mir selbst nicht so klar beim Schreiben, vielleicht, weil ich beides als sehr ähnliche innere Abläufe erlebt habe. Einen Schritt vorwärts, 2 zurück.
Aber ich kann alle deine melancholischen Überlegungen sehr gut fassen und freue mich, dass du sie teilst. Mir gefällt, wenn ein Text offen genug ist, um ihn von mehreren Seiten zu sehen.