Knöpfe, Teil 3

Was bisher geschah:
Teil 1
Teil 2

Ach, übrigens!
Es war das Jahr vor der Machtergreifung Zuckerbergs in der BRD, bloß sah die noch keiner kommen. Mutti, wie man so schön sagt, war (wirklich!) schon im Amt, wie man so schön sagt, und das Internet, das war (wirklich!) noch Neuland, wie man. Naja, egal.
In diesem Neuland lolte und roflte es sich seinerzeit noch unironisch, und der Bildungselite hatte man, jedoch nicht zu diesem Zwecke, ein Domizil aus H, T, M und L gebaut, irreführend StudiVZ geheißen, wenngleich ein aufrechter Werber es als "Facebook in deutsch und placentafarben" hätte feilbieten müssen, darunter kleingedruckt: "Nur für Studenten, sorry".
In ihrem virtuellen Asyl waren die aufstrebenden Sterne am Akademikerhimmel endlich auch von zu Hause aus nur noch unter ihresgleichen (und Etikettenschwindlern). Hier war die Filterblase intakt, hier gab es bloß schwarz, und weiß war irgendwo da draußen. Nicht, dass damals irgendjemand etwas gegen Grauzonen gehabt hätte, aber doch bitte nur auf den Webseiten illegaler Streamingdienstanbieter und nicht hier, in der wonnigen Kinderstube der social Networks. Die soziale Schere (Heterogenität im schulischen Alltag, Dienstag, 10-12 Uhr ct) mochte mahnend klaffen, und natürlich wollte der Großverdiener von Morgen auch in aller Entschiedenheit dagegen andichten und -denken (Ethische Diskursanalyse, zweiwöchentlich Donnerstag, 14-16 Uhr st), doch brauchen soziale Gruppen schon auch ihre Schutzräume (Einführung in die Soziologie, Montag, 8-10 ct). Und wenn der Pöbel da plötzlich kontaminierend Einzug erhält, wird aus dem schönen Neuland, oh Schreck, am Ende noch ein Super-Gauland, nein danke. Sollten die Schulabbrecher und Billiglöhner doch Kuchen essen, wenn sie kein Brot hatten, und sich ihr eigenes soziales Netzwerk scripten lassen. Mit einem eigenen schmissigen Namen, zum Beispiel wer-kennt-wen, fiesgrins!
Obendrein war dieser virtuelle Campus auch dem Arterhalt des Bildungsbürgertums als prokreative Fundgrube errichtet worden, und da war eine sorgfältige Auslese unabdinglich. Man wollte den Triumphzug der künftigen Lendenfrucht schließlich nicht durch die saure Erbmasse eines einfachen Lageristen gefährdet wissen. Der vorausschauende Kopfarbeiter jedoch konnte dem VZ sei Dank in einem simplen dreischrittigen Verfahren potentes Genmaterial erster Güte abernten. Den zugehörigen Organismus erspähte man müden Auges in einer Vorlesung, prüfte online Kompatibilität von Interessen und Sozialgefüge sowie voraussichtliche Liquidität bei erfolgreichem Abschluss des angestrebten Bildungsziels und pflückte eine Hand voll kühner Aufhänger für trunkenen Smalltalk vom Wühltisch der dargebotenen Profilinformationen. Sollte man einander dann auf einer Wohnheimsparty begegnen, war der Einstieg somit pfleglich vorbereitet: Verrückt, du bist auch in der Gruppe "Eimer - Warum sie unten zu sind"? Zack, schwanger.
Zugegeben, aller Hermetik zum Trotze war auch im VZ nicht alles eitel Sonnenschein: Erste Gehversuche im professionalisierten Internetstalking und sexuelle Belästigung gab es, gewiss, auch vereinzelt unter jenen kultivierten Pilgern im Neuland, aber wo gehobelt wird, lol, da fallen freilich auch Späne, rofl. Sollte wer mit dem eigenwilligen Gedanken gespielt haben, zwischen Bachelor und Master ein Sabbatjahr als Triebtäter einzulegen, hätte das VZ ihm ein Quellekatalog sein können, in dem es sich “Die wollen es ja nicht anders” lallend gewinnbringend blättern ließ. Wenn man das degenerierte Hirn einer Dachechse besaß und der Patriarchenpapa für das Abitur bezahlt hatte. Das generische Maskulinum wird hier übrigens in voller Absicht verwendet. “Die wollen es ja nicht anders”, also. Warum sonst sollten die sich auch wie Dirnen auf ihren Urlaubsfotos im Album "Arenal" ahlen, warum sonst standen die dort überhaupt zur Verfügung, mit ihrem waschechten (ha!) Vornamen, dem waschechten (ha!) Nachnamen und hießen nicht "Sven Ja" oder "Der Dude" wie jeder, dem die Unversehrtheit der Privatsphäre so teuer war wie die der Regelstudienzeit. Und warum sonst korrespondierten die nicht verschlüsselt über E-Mail, sondern ausgerechnet auf öffentlichen Pinnwänden: "Treffen uns um 21 Uhr am Kino, warte draußen." Vollpfosten.
Man vertraute dem Netzwerk, vertaute sich ihm an. Zwar hatte man spätestens an der Hochschule gelernt, dass auch im Internet nicht alles Gold ist, das glänzt, zum Beispiel nicht alles Frau, das um die freundliche Zusendung von Nacktfotos bittet, zum Beispiel nicht alles Liebesbrief, das im Yahoo-Posteingang “I love you” verspricht. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste, erst recht, wenn die Kiste aus dem Hause Toshiba stammte. Aber das hier war nicht Knuddels, nicht ICQ, das hier war Neuland, und dem Neuland schoss man ein Quäntchen Vertrauen vor.
Die vielen Gesichter des Teufels inner- und außerhalb des World Wide Web waren bekannt, und seine Namen hatte die Elite längst buchstabieren gelernt, alQaida zuerst und Přiklopil danach. Zuletzt irgendwie auch Eva Herman, der gefallene Engel, mit einem r und einem n, wie in der Mitte bei Kerner. Solange jedoch sich keiner dieser Endgegner in einem Bekennerschreiben als Kopf hinter der neuen Sache StudiVZ zu erkennen gab, solange noch keiner ernsthaft zu Schaden gekommen war, solange zumindest wollte man hier ungeniert die Hosen herunter lassen dürfen.

Fortsetzung: Teil 4