Knöpfe, Teil 4

Was bisher geschah:
Teil 1
Teil 2
Teil 3

Vielleicht war es die trügerische Bürgschaft der Masse, etwas zu tun, das alle anderen auch taten, die Sicherheit versprach. Sie alle waren Deutschland, Deutschland war Weltmeister (und Papst!), und die deutsche Bildungselite war StudiVZ.
Vielleicht aber war auch das Gegenteil der Fall und die große Nation zerfiel im neuen, im gelobten Land in viele Enklaven trauten Sicherheitsgefühls: Schließlich war es (noch!) nicht Deutschland, (noch!) nicht die Nationalelf und auch (noch?) nicht der Papst, mit denen man seine virtuelle Insel bevölkerte. Es galoppierten und hopsten durch den Sand dort auch nicht die Fabelwesen der alten Portale mit ihren klangvollen Namen wie lederhengst63 oder XxkuschelhasixX, hinter jedem derer sich der Herr der Fliegen persönlich hätte verbergen können.
Man kannte einander, zumindest mit den Augen, und zwar aus dem sogenannten Real Life, dem echten Leben, jenem bewährten Garant für schadloses Beisammensein seit Kain und Abel. Nie zuvor, befeuerte der Anwender die eigene Begeisterung, waren das virtuelle und das physische Leben so innig spürbar verbrüdert gewesen, fast wollte man von einem Zwilling sprechen. Dem Eskapismus der Verlierer mochte das Web lange schon ein Hafen gewesen sein, nun sollten die Gewinner einziehen und die Nativen, wenn es denn sein musste, vertreiben, mit Realismus in sRGB, denn zu fliehen hatte man nichts, zu fürchten wenig. Die Realität war erste Sahne und eine zweite im Netz sollte die Kirsche darauf werden. Zumal der liebe Vati ja auch ein Haus in Gütersloh und noch eins auf Sardinien sein Eigen nannte. Irgendeinem Genie, zweifellos einem Akademiker, war es tatsächlich gelungen, die Wirklichkeit mit sich selbst zu multiplizieren, und die Realität 2.0 würde Freundschaften wie bei Friends, Sex wie bei Siffredi und Liebe endlich wie bei Disney sein lassen.
Doch war das soziale Netzwerk nicht wie Sardinien irgendwann durch die Feiertagslaune einer Kontinentalplatte von Frankreich losgerissen und ins Meer getragen worden. Irgendjemand hatte es in bester Absicht erschaffen, aus Einsen und Nullen, und wo gehobelt wird, da fallen Späne. Kann man jederzeit Gott fragen, falls heutzutage noch irgendjemand mit dem spricht, denn mit unwillkommenen Nebenprodukten in Schöpfungsprozessen kennt der sich aus. Sechs Tage lang hatte er sich im Schweiße seines Angesichts eine Welt zusammengezimmert, heiter über die Urmasse geisternd wie ein Fünfjähriger über einer Kiste Lego Technik, und als das Machwerk am sechsten Tage endlich vollendet vor ihm gestanden hatte, zischte da auf einmal das Böse in der phallischen Form einer Schlange zwischen den Bauklötzen herum und warb ihm seine Leute ab. Weiß der bis heute nicht, wo das auf einmal hergekommen war. Vielleicht hatte er bei einem der Männchen das Fortpflanzungsorgan nicht ordentlich festgesteckt, und das hatte sich nun selbstständig gemacht, um mal die liebe Misandrie theoretisch zu bemühen. An der Servicehotline jedenfalls hatte man bloß wissen wollen, ob er schon versucht hätte, “es einfach mal aus- und wieder anzuschalten”. Hatte er, Sintflut, nichts genützt, was soll's.
Zurück zum World Wide Web: Auch im schönen neuen Paradies des sozialen Netzwerks tauchte ein unvorhergesehener Widersacher auf, ein Parasit, hungrig und geduldig. Auch hier brachte Aus- und Anschalten nicht das versprochene Ergebnis, der lauerte einfach wacker weiter. Lange hatte es nicht gedauert, bis die ersten Tölpel die fetten Beeren gekostet hatten, auf denen er gehockt und harrend ins salzige Wasser gestarrt hatte, dass sie kommen. Das Glück war ihm hold gewesen, vielleicht, als sein erster Wirt ausgerechnet der Verstand derjenigen war, die seine Verbreitung einzudämmen im Stande gewesen wären. Aber sie hatten nicht lernen wollen sich zu schützen, und gingen vor ihm in die Knie wie die Pokanoket vor den Pocken. Im selben Jahr noch verkaufte ein Mann namens Steve Jobs den Besserverdienern ein mobiles Endgerät, mit denen sie ihre Insel im Internet stets in der Tasche spazieren führen würden und, es starrte der Schmarotzer im Verstand aus den Augen der Käufer, auch wollten, auch taten. Immer mehr Nutzer sollten in den Jahren, die kamen, befallen werden und die sozialen Netzwerke, schließlich soziale Medien, würden sich verbreiten wie eine Epidemie. Das Zeitalter der Gleichzeitigkeit würde anbrechen, in dem man mit den einen an dem einen Ort war, gleichzeitig mit dem Parasit hinter den Augen und den Augen auf dem Display aber mit anderen woanders. Unentdeckte Inseln würden bald auch den zuvor abgehängten Pöbel, Lageristen inbegriffen, in die schöne neue Welt locken, in der täglich neue Welten erschlossen wurden und alte mit ihren Bewohnern im Meer versanken. Und der Parasit würde sich fett fressen und die Köpfe zuscheißen mit seinen klebrigen Ausscheidungen. Die Hälse würden ihnen zuwuchern, sodass keine Sprache mehr hindurchpassen würde, die mehr umfasste als 280 Zeichen. Sie würden die Sprache nicht vermissen und sich über Bilder und Zeichen verständigen wie damals in der Höhle. Sie würden jagen und sammeln, die einen virtuelle Taschenmonster, die anderen Geschlechtskrankheiten. Und würde einer sagen: “Scheiße, hab Chlamydien”, würde niemand vom Display aufsehen, aber einer entgegnen: “Cool, hab gestern auch endlich ein Glumanda gefangen.” Und dann würden sie weiter Bilder von sich erstellen, wo immer sie sitzen, stehen und liegen würden, Bilder von Essen, dass sie kaufen würden und nicht schlucken könnten, weil der Rachen zu eng geworden sein würde, Bilder ihrer Genitalien und Ausscheidungen. Würden Zeichen versenden, die lachende und weinende Gesichter zeigten, selbst, wenn ihre Gesichter nicht mehr weinen und lachen könnten, denn ihre Wangen würden an den Zungenkanten kleben, sodass die Lippen bizarr hervorstehen und ihnen den Ausdruck einer Ente verleihen würden. Bald würden diese Entenmenschen immer überall und niemals irgendwo sein. Der Knopf, der die Meldungen brachte, der die Zahlen und den Input lieferte, würde den Verstand ersetzen, und jeder Reload würde dem Organismus ein Atemzug sein.
Man sollte selbst zu Zahlen werden wie die vielen Inseln, auf denen man gleichzeitig wohnte, sollte Einsen und Nullen werden, zu einer Summe von Likes, Followern und Retweets, und wer das Soll nicht erfüllte, der wäre ein Nichts, zwei Nichts oder unendlich viele Nichts, schon bald.
Aber Momentchenmal, was sollen denn die Spoiler ohne ordnungsgemäßen Warnhinweis? Noch war es ja gar nicht so weit. Noch war 2007 und die Welt noch in Ordnung, wenn man von Britneys Unfall mit dem Haarschneidemaschinchen einmal absah. Noch klappte man den Laptop einfach zu, wenn man meinte, alles gesehen zu haben, und tat mans zu hastig, flogen ein paar Flusen und Krümel harmlos aus dem Tastaturgedärm. Das Leben fand noch zwischen den Reloads statt und bestand genauso aus Prokrastination, einem Sammelbegriff, der eigens für die Zerstreuungen dieser Zeit erfunden worden war. Manchmal besuchte man Vorlesungen, manchmal nicht, und wenn man das Gefühl hatte, dem Sitzfleisch eine Pause gönnen zu müssen von dem zermürbenden Alltag auf Sesseln und Seminarraumbestuhlung, begab man sich zum Beispiel auf eine Studienfahrt auf die britische Insel, um auf den Spuren der angelsächsischen Dichtkunst zu wandeln und das Internet einmal für ein paar Tage unbeachtet vor sich hin gären zu lassen. Denn auch das ging damals noch, ohne dass man sich mit spitzen Nägeln die Haut von den Unterarmen schabte. Die Insel sollte es also sein, dieses sonderbare Schlaraffenland, in dem Fudge an den Fingern klebte, Cider durch die Bachbetten floss und gebratene Tauben, naja. Die flogen da zwar nicht herum, aber vom Himmel fielen immerhin welche, dort, leider nicht verzehrfertig.

Fortsetzung folgt.