Dienstag, 10. September 2019
54, Konjunktiv

Heute vor 54 Jahren wurde meine Mutter geboren, und das ist, wenn ich ehrlich sein soll, eine verdammt bizarre Vorstellung, denn ich kannte meine Oma und ich kannte meine Mutter (letztere sehr gut, wie ich behaupten möchte) und wenn mein Gehirn versucht, eine Geburt zu inszenieren, bei der ausgerechnet diese beiden die notwendigen Hauptrollen übernehmen, indem die eine zuerst im Uterus und dann in den Armen der anderen strampelt, dann bekomme ich Kopfweh. Meine Fantasie spuckt einfach keinen Säugling aus, immer bloß die ausgewachsene Mutter, wie sie war, bevor sie starb, nichtmal einen Schnuller im Mund. Ihr blondiertes Haar piekst taftgestärkt ins niveaweiche Dekollete ihrer demenzgeplagten Mama, und beide beginnen, die Liebe füreinander in tradierte Beschimpfungen zu übersetzen, noch ehe jemand die Nabelschnur durchtrennt hat. Sich seine Eltern als Kind zu denken, macht Kopfschmerzen, so wie es Herzschmerzen macht, sich seine Eltern tot zu denken.
Meine Mutter hat mir mal erzählt, und ich weiß nicht, ob ich das richtig berichte, oder ob sie es richtig wiedergegeben hat (aber was bedeutet das schon bei Geschichten, die wir einander erzählen), jedenfalls erzählte meine Mutter, dass sie hätte Dagmar heißen sollen, eigentlich. Mein Opa jedoch habe den Namen vergessen auf dem Fußmarsch zum Standesamt (nehme an, da war der ein oder andere Schnaps im Spiel), den Namen vergessen wie man einen Brief vom Finanzamt vergisst oder den Regenschirm beim Kieferchirurgen, und kurzerhand entschieden: Andrea ist ja auch ganz schön, als Name. Selbigen Gedanken teilte er mit dem Standesbeamten und der mit seinen Urkunden, dankesehr, schönen Tag. Andrea. Daran denke ich heute und male mir den unabwendbar folgenden Streit meiner Großeltern aus, die so streiten konnten wie man es nur aus Filmen kennt, und denke daran, dass Namen so egal sind wie die Wahrheit in Geschichten und Erinnerungen, solange man sie erzählt und solange man sich erinnert, denn Leben ist Veränderung und tot ist nur, was vergessen wird für immer.
Und ich denke daran, bestimmt hab ichs schon erzählt, was solls, wie meine Mutter, die eine Dagmar hätte sein sollen, aber eine Andrea wurde, einen Tag lang Prinzessin war. In Grundschulzeiten hatten ein Kompagnon und ich ein (miserables) Theaterstück aus dem Tele5-Nachmittagsprogramm zusammenplagiarisiert, Kulissen gezimmert und die Nachbarn eingeladen. Nur der Hauptdarstellerin, der hatten wir nicht Bescheid gesagt, hoppala, aber man kann ja nicht an alles denken, wenn man noch keine Haare unter den Armen hat. Die Kulisse stand in der väterlichen Garage parat, mit Feiertagsgesicht saßen die Nachbarn in Reihe und Glied auf Kirmesbänken, der Star aber war nicht im Bilde gewesen und darum verreist, teilte ihr Bruder telefonisch mit, Minuten vor dem Öffnen des Vorhangs. Dagmar, die eine Andrea geworden war, was solls, nahm die Sache in die Hand, was solls, zwängte sich in das Kleinmädchenkostüm und rettete die Show, mit losen Textseiten in der Hand und ohne jedes Talent, was solls.
Manchmal frage ich mich, warum ich, wenn ich über meine Eltern spreche, so oft nur an die dunklen Momente denke, die, in denen die elterliche Sorge die Seifenblasen meiner Träume mit schwarzem Rauch gefüllt hat. Vielleicht, weil diese Momente so viel Zement auf einem unsicheren Herzen ausgießen und dieses Gewicht so viel deutlicher spürbar ist als die Gesten der Liebe, die nicht wiegen sondern heben und schieben, vorsichtig, aber mit Bestand, bis man von alleine fliegt, dem Ballast zum Trotze. Wenn ich mir selbst wieder einmal einrede, dass meine Eltern meine Kreativität nie verstanden hätten, vor Angst, ich könnte in der Gosse enden und von streunenden Hunden gefressen werden, will ich jetzt fest an meine Mutter denken, die einen Tag lang Prinzessin wurde, mit Tonnen von Scham auf ihrem Muskel, den wir Herz nennen, bloß damit ich fliegen konnte.

Alles Gute zum Geburtstag. Und danke.