Dienstag, 8. Oktober 2019
Blutiger Tau

Dort draußen vor deinem Fenster haben zwei streunende Katzen die Liebe gefunden. Ihre Zweisamkeit klingt wie der verzweifelte Schrei eines Neugeborenen.

Ich lösche deine Nachttischlampe und ziehe mir das Shirt über den Kopf. Als ich es neben dem Bett auf den Boden werfe, knipst du das Licht wieder an.
"Nicht.", flehe ich leise und bedecke meinen Nabel mit den Händen. Deine Hand jedoch hat schon sterbende Haut am Oberarm entdeckt, die silbrig auf roten Hügeln darauf wartet, im Schlaf zu blutigem Tau gekratzt zu werden. Deine Finger werden sich noch an diese Berührung erinnern, wenn mein Arm sie schon lange vergessen hat.
"Schuppenflechte", erkläre ich.
"Hatte einer in der Grundschule auch", sagst du ruhig und küsst meine Armbeuge, "als Kind dachte ich, der Junge verwandelt sich langsam in einen Fisch."
Meine Augen wühlen in deinem Gesicht nach Indizien von Spott und Ekel. "Leider nicht ganz so romantisch", sage ich schließlich. "Schwimmunterricht war die Hölle."
"Außerdem", setzt du an, klaust mir die Decke und wickelst deinen Unterleib fest darin ein, "habe ich als Kind im Bett so getan, als sei ich eine Meerjungfrau, oder Meerjungmann, wie auch immer die heißen, siehst du? Hinkoinkoink!"
Deine Imitation eines Seehunds sieht aus wie ein epileptischer Anfall und klingt wie Asthma. Grinsen muss ich trotzdem.
"Hey". Du küsst das Grinsen an einem seiner Enden. "Deine Schuppen bringen mich näher an die Erfüllung meines Kindheitstraums als ich mir je zu wünschen gewagt hätte".
Dann greifst du über mich und angelst etwas vom Nachttisch, hast plötzlich den Deckel eines Filzstifts zwischen den Zähnen.
"Lass uns”, nuschelst du und schiebst den Deckel mit den Zähnen auf die Hinterseite des Stifts, “den Dingern Namen geben, ja?"
Du wartest keine Antwort ab, schreibst schon 'Walburga' neben die Rötung am Ellbogen. "Was einen Namen hat, verbreitet weniger Kummer und Schrecken. Und wenn die Kollegen alle benannt sind, will ich jeden einzelnen besuchen und mich ordentlich vorstellen."
Du drückst auch mir einen Stift in die Hand, unter der das silbrige Rot meines Nabels zum Vorschein kommt.
"Das ist 'ne Agnes", urteilst du. “Agnes”, schreibe ich auf meinen Bauch.

Als es draußen dämmert, sind wir beide nackt und mein Körper unter deinem sieht aus wie eine Landkarte. Die verliebten Katzen vor dem Fenster haben zu schreien aufgehört und sind verschwunden. Ich frage mich, wohin ihre gemeinsame Reise führen wird, und welche Abenteuer da draußen auf sie warten.



Sonntag, 6. Oktober 2019
Glasmilch /// Milk of Glass

Als Kind hab ich an Ampeln wartend
von Zehn zu Null herabgezählt
Denn wer glaubt, eine Fee holt den Milchzahn vom Kissen
und lässt Münzen darauf als Ersatz
und dass Tote nicht Erde sondern Engel werden
der hält auch für denkbar
der weiß, es ist machbar
Stehen in Gehen verzaubern zu können
mit dem Kopf erhoben voran

Heute morgen um viertel nach Fünf
vergaß ich endlich dein Gesicht
und auch dein Lachen ertrank in Weiß
Nur noch Konturen hinter milchigem Glas

Dann in der Stadt
an der Ampel natürlich
Wind in Markisen
weht dich vertraut
aus irgendeiner Achsel
von irgendeinem Hals
aus irgendeinem Schritt

Und deine Augen zurück in alle Gesichter
dein Lachen in jeden Mund
Im Herbst tragen sie oft schwarze Mäntel
Jeder Blonde ein Irrtum von Wiedersehen

Ich geh nicht mehr raus
Starre still an die Wände
Und zähle von Zehn herunter zur Null

///

As a child I used to count down from ten
whenever waiting for red lights to switch
Believing
a fairy would take my milk teeth
and leave a handful of coins in their place
and that the dead don't decay but become angels instead
I considered it possible
I knew it was doable
turning standstill to movement
headfirst

This morning at a quarter past five
your face had finally escaped my mind
and your laughter as well drowned in white
only a silhouette behind milk glass remained

But then back in town
at a red light of course
wind in the awnings
blew familiar scents
from under somebody's arms
from somebody's neck
out of somebody's lap

Blew your eyes back in everyone's faces
your laughter returned to their throats
In autumn they all prefer to wear black
Every blonde a mistaken reunion

I won't go outside
I'll just stare at the walls
and quietly count down from ten



Samstag, 5. Oktober 2019
Knöpfe, Teil 2

Was bisher geschah: Teil 1

Lola zerrte den ipod aus der Hosentasche und wechselte zur Playlist “Popscheiße”. Nicht, dass sie viel mit Pop hätte anfangen können, aber wer seine Zukunft im Musikjournalismus sah, der hatte gefälligst auf dem Stand der Dinge zu sein. Ja, meine Damen und Herren, Ruhm und Ehre wachsen nicht an den Bäumen (auch nicht an regular lime trees, hähä), das ist harte Arbeit.
"Ich brauch hier mal deine fachkundige Meinung als Musikkenner", erklärte sie nun, als sie sich an den glotzenden Grübchen vorbeibeeilt hatte und neben Felix herlief. Der roch nach Schnaps, nach kaltem Rauch und nach Frauendeo, das er im Übrigen von ihr abgezogen hatte, und damit trotzdem irgendwie noch so, dass man ihn aufessen wollte.
"Ach du grüne Neune, du stinkst wie ein Freudenhaus", kommentierte Lola dem Appetit zum Trotze, denn sie nährte ihre Selbstachtung gerne damit, nicht zu den Frauen zu zählen, die sich im Angesicht eines potenziellen Zukünftigen bloß noch in vogelartigen Piep-, Pfeif- und Flöttönen verständigen können. Sie hatte lange an ihrem Humor gefeilt, der vor allem von Leihgaben bei überholtem Sprachgebrauch zehrte, und diese Errungenschaft würde sie doch nicht ausgerechnet jetzt aufgeben.
"Das ist das Geheimnis meiner Street Credibility", antwortete Felix, der sein Vokabular lieber in der Gosse borgte und dessen Gesicht heute Morgen noch käsiger war als der untere Rücken, bevor er sich den dargebotenen Kopfhörer ins Ohr drückte, "Ist das etwa mein schwarzer Bruder Jay-Z?"
"Fürwahr!", lobte Lola antiquiert am anderen Ende der Schnur, "Aber um den geht es mir nicht. Bitte richten Sie ihre Aufmerksamkeit auf den Sirenengesang, der gleich folgt."
Innerlich klopfte sie sich auf die Schulter dafür, so ein ausgekochtes Schlitzohr zu sein, denn wer Kopfhörer teilte, der war auch drei Minuten lang nah beieinander. Das war ja fast schon Geschlechtsverkehr. Felix hielt jedoch nicht so lange Stand wie erhofft.
"Ella, ella, ella, was ist mit ihr, die hat doch'n Schlaganfall!", urteilte er rasch.
"Das stimmt!", befand auch Lola und war froh, dass mit der Ablehnung der Musikauswahl nicht auch die des Kopfhörers einherging, "Warum hilft ihr denn niemand? Aber du wirst bis zum Ende hören müssen, tut mir sehr leid."
Links an ihnen vorbei zogen die Zwillinge, die keine Zwillinge waren, aber welche hätten sein können, bloß in unterschiedlichen Farbtönen. Zwei Kerle groß wie die Twin Towers, Gott hab sie selig. Da sie keine Trekkingjacken trugen, war ihr Studienschwerpunkt bislang ungeklärt. Stattdessen kleidete man sich auch bei Bodenfrost in T-Shirts, die Drachen und nackte Amazonen zeigten und entweder eine Metalband oder eines dieser Gesellschaftsspiele bewarben, bei denen magere Zahnspangenträger so taten als hätten sie Muskeln, Erfolg bei Frauen und Zauberkräfte, hex, hex. Unter den Lippen wucherten Kinnbärte, blond bei dem einen Zwilling, schwarz bei dem anderen, und sie rochen stets ein wenig wie eine Bahnunterführung, also nach Pisse. Vermutete Lola zumindest, denn nah genug dran, um das zu überprüfen, war sie bislang nie gewesen, preiset den Herrn. Eingehakt in ihrer Mitte führten sie, wie immer, die Spanierin mit sich, die so winzig war, dass ihr armes Näschen unangenehm nah am Quell des unterstellten Gestanks sein musste. Andererseits hatte der Höhenunterschied aber auch sein Gutes, denn so waren die Trommelfelle der Zwillinge, Statur sei Dank, weit genug von der Stimmritze der Spanierin entfernt, um nicht fortwährend ein Platzen zu riskieren. Die fehlende Körpergröße kompensierte man dort unten nämlich mit einer Stimme, die unschöne Kindheitserinnerungen an Ferien auf dem Bauernhof auf den Plan riefen. Schon seit Lola das ohrenbetäubende Krähen auf der Fähre zum ersten Mal vernommen hatte, fragte sie sich, ob die Spanierin wohl oft mit streunenden Hunden und Fledermausschwärmen zu kämpfen hatte, die sie versehentlich ins Haus lockte, wenn sie zum Beispiel unter der Dusche ein Ständchen zum Besten gab. Falls sie überhaupt den Schneid hatte zu singen, man will ja nicht dauernd neue Fensterscheiben einsetzen müssen. Lola zumindest hätte zu anderen Hobbys geraten, thailändische Schweigemeditation zum Beispiel.
Augenscheinlich machte auch einer der Zwillinge sich Gedanken über die bevorzugten Freizeitbeschäftigungen seiner Begleiterin und er teilte seine Vermutung pantomimisch über den schwarzen Schopf der Spanierin hinweg mit dem anderen Riesen, indem er seine Finger zum drahtigen Gestrüpp seines Mundes führte und die Spalte zwischen Zeige- und Mittelfinger ausgiebig mit Speichel benetzte.
"Tobias!", rüffelte Kazmierski von hinten, “What a nasty gesture!”
"Kraaaankes Schwein...", kommentierte auch Felix, leider nur halblaut und exklusiv für Lola, was ihm Abzüge auf der Stempelkarte für Zivilcourage einbrachte. Lachen musste sie trotzdem, denn seine Persiflage des Opfers eines Irren in einem schlechten Psychothriller war wahrlich reif für die goldene Himbeere.
"Was? Was hast du denn gemacht? Man, sag jetzt! Sag schon! Tohohohobihihihihi!", krähte die Spanierin und Lola beeilte sich, die Aufmerksamkeit zurück zur Popmusik zu dirigieren: "So, Felix, jetzt wird's ernst, jetzt musst du aufpassen!"
"Warum quälst du mich so?", setzte der seine Performance fort, hörte das Lied aber bis zum Schluss artig an.
"Was ich mich nun frage", erklärte sie schließlich, als die bepflanzte Ordnung der Allee sich in einer Kurve in dichterem Grün verlor, "Singt diese Rihannaperson da am Ende 'Come here to me', oder, und das wäre wirklich eine beunruhigende Entwicklung der Populärkuktur, 'Cum into me'?"
"Ich hab 'cum into me' verstanden. Risch gut!", urteilte Felix, verzog die weinblauen Lippen zu einem gequälten Lächeln und gab den Kopfhörer zurück, schade.
"Verrohung!", meinte Lola.
"Angeblich ist das der neue Stern am Pophimmel. Ich für meinen Teil glaube ja nicht, dass sich das durchs-"
Weiter kam sie nicht, denn ein Geräusch forderte ihre Aufmerksam ein, das klang, als würde ein schweres Wäschestück klatschnass von der Leine auf den Boden platschen. Unmittelbar vor den Füßen der Spanierin war eine Taube im Sturzflug auf den Boden gekracht und wand sich im Todeskampf.
“Fuck”, meinte Felix und kommentierte damit nicht das Elend des Vogels, sondern den schrillen Schrei der Spanierin, “Mit der Stimme kannste Metall zerflexen.”
“Da sind noch mehr”, meldete sich weiter vorne in der Kurve Janina Vetkötter fachkundig zu Wort, die gemeinsam mit Felix und Lola irgendwas mit Medien studierte und darum eigentlich zu den zurechnungsfähigen Exkursionsteilnehmern zu zählen war, wäre da nicht diese gespenstische Schwärmerei für den Tod gewesen. Bei Kazmierskis Weinfest gestern hatte sie alle 108 Zeilen von Poes “Raven” mit Grabesstimme vorgetragen, und ihre Seminarmitschriften waren am Rand stets mit Kritzeleien von abgetrennten Gliedmaßen dekoriert.
Nun hatte sie ein Stöckchen vom Wegesrand aufgelesen und stocherte damit in einer anderen Taube herum, die gemeinsam mit etwa zwanzig weiteren verendeten Artgenossen den Weg hinter der Kurve pflasterten. Lola fröstelte und versuchte den Blick von dem gefallenen Vogel zu nehmen, der vor den Zwillingen lag. Die Taube schrie im Todeskampf und die Spanierin krähte mit ihr im Chor, schluchzte und heulte und ließ sich von dem blonden Gefährten ausgiebig trösten.
“When doves die”, hauchte Felix Lola eine eigenwillige Interpretation von Prince ins Ohr, aber auch wenn sie den Einfall lobenswert fand, verlor das Lachen gegen den Schrecken.
Der dunkle Zwilling gab sich indes im Konkurrenzkampf um die Gunst der Spanierin nicht kampflos geschlagen und zerquetschte der leidenden Taube mit einem beherzten Sprung den Kopf.
“Jetzt ist Ruhe. Jetzt ist es vorbei”, löste er sein blondes Ebenbild beim Trösten ab.
Hinter Lola kotzte Felix in einen Busch.

Fortsetzung: Teil 3