Freitag, 4. Oktober 2019
Knöpfe, Teil 1

Apollogrübchen. So bezeichnete man die von der Fachjury der Allgemeinheit als attraktiv eingestuften Dellen am unteren Rücken, links und rechts der Wirbelsäule mancher gesegneter Männer. Anders hingegen nannte man die bei Frauen. Wie die jetzt genau bei denen hießen, war wiederum egal, denn es war ja kein Frauenrücken, dem sie wie hier wie hypnotisiert durch die englische Flora hinterherschlurfte. Wahrscheinlich irgendwas mit Aphrodite. Oder Venus. War ja im Grunde dasselbe, und welche davon jetzt die Griechin und welche die Italienerin - Römerin, tschuldigung - war, konnte sich am Ende ja doch keiner behalten. Lola schonmal gar nicht, und erst recht nicht in diesem Zustand. War ja auch, wie gesagt, schnurz. Adam Sandler und den anderen warf sie auch ständig durcheinander, wie hieß der jetzt wieder, Ben Stiller, und das merkte meistens nicht einmal jemand. Sie sagte z.B.: "Den Streifen, in dem Adam Sandler seinen Schwiegervater melken will, kann ich vor lauter Fremdscham nicht ertragen" und man antwortete zwar empört, aber aus den falschen Gründen: "Also, ich fand den witzig!" Dabei war das in dem Film gar nicht Ben Sandler, sondern der andere, glaubte sie zumindest. Einmal jedoch hatte sie eine Wette verloren wegen so einer hartnäckigen Verwechslung, da war die sture Ahnungslosigkeit aufgeflogen, weil sie nämlich nicht davon abzubringen gewesen war, Scarlett Johannson würde in der ikonischen Karaokeszene in "Lost in Translation" ausgerechnet "I don't feel like dancing" von den Scissor Sisters trällern. Was natürlich vollkommen banane gewesen war. Haha, als ob die Sophia Coppola...nunja, nach der Niederlage war sie jedenfalls etwas zurückhaltender mit der Veräußerung derartiger Überzeugungen geworden. Wurde ja auch immer leichter, solche Irrtümer aufzuklären, denn das Internet war auf dem Vormarsch.
So, wie zum Henker sind wir jetzt wieder bei den Scissor Sisters gelandet? Achso, Musik. Mein Stichwort. In Lolas Ohren steckten Kopfhörer, und aus denen wummerte "Galvanize" von den Chemical Brothers. My finger is on the button, und so weiter und so fort. Sie hatte sich nämlich ihre "Running motivation"-Playlist auf ihrem ipod gegönnt, auch wenn man damals noch gar nicht dauernd von Gönnung sprach und sie niemals auf die Idee gekommen wäre zu joggen. Da schrubbte man sich ja die Schenkelinnenseiten kaputt und die Brüste flogen wild herum wie Pogende auf Konzerten der Ärzte. Aua. Niemals rannte man in der Öffentlichkeit, das war die goldene Regel, denn wie sah das denn aus. Die Playlist wurde also zweckentfremdet und sollte finstere Gedanken vertreiben, wie: Wenn du irgendwo ein Buttermesser findest und hartnäckig genug sägst, schaffst du es vielleicht, deine Pulsadern zu öffnen und musst heute nicht wandern. Ach was, Buttermesser. Irgendeiner der Lehramtsstudenten hatte doch bestimmt in seinem Jack Wolfskin-Trekkinganorak oder in der beigen Funktionshose ein Schweizer Taschenmesser versteckt. Und Taschentücher, Pflaster, mehrere Flaschen Apfelschorle, Butterkekse, Insektenspray, einen Bunsenbrenner. Was man eben so mit sich führte, wenn man mit Anfang zwanzig schon Mitte fünfzig war. Die Kommilitonen vom Lehramt aber liefen gut zwanzig Meter weiter hinten, aufgeregt wie ein Rudel Hunde aus dem Tierheim, das endlich einmal jemand ausführte, und zu beschäftigt mit Speichelleckerei, um jetzt nach dem Taschenmesser zu kramen. Am anderen Ende der Leine: Ingo Kazmierski, Dozierender der englischen Literaturwissenschaft und zwar nicht der einzige mit Notengewalt, bei dem es sich auf so einer Exkursion anzubiedern galt, aber der jüngste. Da witterte der Lehramtsköter natürlich gleich eine gewisse Zugänglichkeit und schleckte vergnügt an den haarigen Fingern Eurer Majestät. Würde sich vielleicht irgendwann lohnen, sollte man sich bei einer Examensprüfung wiedertreffen. "I love hiking!", "I wonder if we're going to see wild ponies!", "I already feel like Catherine in 'Wuthering Heights'!", übertrumpfte man sich da hinten also im Schwanzwedeln und Lola war sich sicher, würde Kazmierski den blanken Arsch präsentieren, würde einer nach dem anderen darin verschwinden. Plopp und weg, nur noch ein einsamer Wanderstiefel aus perforiertem Wildleder würde zwischen den Backen herauslinsen. Warum sprachen die überhaupt ständig Englisch, der Mann kam aus Leverkusen, verdammte Axt.
Kazmierski selbst wirkte noch etwas wacklig auf den Beinen, kein Wunder. Der hatte gestern eine erlesene Gruppe Studierender in der Unterkunft mit “select wines” davon überzeugen wollen, dass es eben doch einen Unterschied machte, ob man sieben Euro in eine Flasche oder eine Hand voll Kleingeld in einen Tetrapak investierte. Den beworbenen Unterschied hatte keiner rausgeschmeckt, aber Felix hatte herausgefunden, dass man das Zeug ganz gut runterbekam, wenn man unterm Tisch einen Spritzer Cola und einen großzügigen Schluck Wodka hinzufügte. Aproprost Felix,
Der lief vor ihr her und sie verlor das Blickduell. Mit den Apollogrübchen auf seinem Steiß, der eine Hand breit brach lag, weil sein Rucksack den Pulloversaum gefangen hielt, besten Dank. Links und rechts des Weges, der von den Unterkünften auf dem Campus der Partnerstadt hinunter ins Zentrum führte, hatte man irgendwelche Laubbäume gesetzt, Allee nannte man das, und Lola hatte keinen blassen Dunst, ob das Bäume waren, die es jetzt nur auf der Insel gab, oder. “Gosh, those trees are beautiful!”, kläffte da schon eine von Kazmierskis Tölen laut genug, um die Musik in den Kopfhörern zu übertönen, “I wish we had those in Germany.”
“Well, we do. Those are regular lime trees”, dozierte es zurück und Lola war froh, dass sie die Frage nicht gestellt hatte. Immer jedenfalls, wenn einer dieser regular lime trees gerade keinen Schatten auf Felix’ Rücken warf, malten die Grübchen zwei, und aus der viel zu blassen Haut glotzten graue Augen sie an, ein hässliches Käsegesicht, das nicht einmal eine Mutter hätte lieben können. Sie schon, wie's aussah, und da halfen auch die Chemical Brothers nicht, denn ihr Finger war ihr wohl dummerweise vom Button gerutscht. Ärgerlich, sie hatte sich verliebt. Nunja, dann eben in die Hände gespuckt und auf zur feindlichen Übernahme, nicht wahr.

Fortsetzung: Teil 2



Donnerstag, 26. September 2019
Hautsache

Lieber M.,

Weißt du,
Die Liebe von heute ist immer noch die Liebe von gestern. Die macht bloß einen Kopfstand.
Ordnungsgemäßer Ablauf früher: Man kennt einander nicht, man lernt einander kennen, man verliebt sich, man vögelt.
Ist immer noch so. Nur eben anders herum.

Das mit dir hat so aufgehört:

Du, nackt: Es ist schade, dass es vorbei ist, bevor es angefangen hat.
Ich, in Pullover, Mantel, Schal, mit Rucksack, der schwer ist und den es noch stärker wieder nach Hause zieht als mich: ---.
Nichts.

Wir beide in deiner Wohnung, die ein Zimmer ist, in dem es diese Küche gibt und dieses Bett und dieses Badezimmer ohne Tür. Vielleicht wäre ich geblieben, wenn es diese verdammte Tür gegeben hätte.
Vielleicht nicht.

Lieber M.,

Das mit dir hat so angefangen:

Wir schlafen. Das ist einfach, weil ich nicht reden muss. Zuerst schläfst nur du, denn ich habe dir vorgelesen. Auch das ist einfach gewesen, weil die Worte nicht meine sein mussten, auch wenn ich dir in jeder anderen Situation eine bessere Geschichte erzählt hätte als diesen Quatsch von einem traurigen Hasen, der auf dem Mond lebt oder zum Mond will oder zum Mond schaut, so genau weiß ich das nicht mehr. Aber du wolltest den Hasen. Und bist eingeschlafen. Dann irgendwann auch ich, weil deine Wohnung ein Zimmer ist und ich schneller fertig mit meinem Rundgang war als du mit deinem Traum vom Kopfstand auf dem Mond.

"Besuch mich. Ich zeig dir die Stadt. Ich koche dir was", hattest du gesagt, am Telefon, aber wir waren nicht weit gekommen. Eine russische Kirche haben wir gesehen, auf einem Berg mit russischen Touristen und russischen Pfannkuchenverkäuferinnen.

"Fahr mich heim. Ich bin zu müde. Machen wir später."
Und später: "Lies mir was vor. Das mit dem Hasen."

Und wieder später wache ich auf und du bist du und wach und überall. Deine Locken in meinem Gesicht, das gelbe Licht ist mit dir an jedem Ort und wach wie du, deine Hand in meiner Hose. Dir gefällt mein Schwanz, noch bevor ich weiß, ob mir deine Hand daran gefällt. Und ich weiß nicht, ob man sich da jetzt bedankt oder was. Ich küsse dich trotzdem, weil ich das besser kann als reden und du sagst, du wolltest mich schon, als du mich gesehen hast, wie ich da stand, am Auto, vor deiner Wohnung, die ein Zimmer ist. Dann willst du wissen, mit wie vielen Juden ich geschlafen habe, „Bei mir waren‘s erst drei“, fügst du traurig hinzu. Ich sage nicht: „Du bist mein erster“, weil das zu viele Türen auftun würde in einer Wohnung, in der es nur eine gibt, und die führt: Weg.

Du gehst in das Bad ohne Tür in diesem Zimmer ohne Wohnung, machst Musik an, die sich in meiner Erinnerung anhört wie etwas, das in Fahrstühlen gespielt wird. Irgendwo liegt ein Kondom und ich kann dich hören, viel zu menschlich, viel zu nah. Du ganz Körper, ich ganz Kopf. Ich denke an den Hasen, der auf dem Mond sein möchte.

Vielleicht bin ich wiedergekommen, weil ich die Stadt sehen wollte, deine Stadt. Vielleicht habe ich mir eingebildet, deine Tür reparieren und aus einem Zimmer eine Wohnung machen zu können. Mit einem Ort, an dem man sich beim Pinkeln verstecken könnte, deine Menschlichkeit für zwei, drei Momente aussperren. Vielleicht wollten wir da weitermachen, wo wir nie angefangen hatten, kochen und reden und Geschichten von Hasen auf dem Mond zu Ende erzählen.

Als ich ging, warst du nackt und ich nicht.



Samstag, 21. September 2019
Trödelmoment

Was ich noch weiß:

Mein Opa war Sammler, Gesangbücher, deshalb trieb er sich auf Flohmärkten herum, und ich durfte mit, oft. Um mir die Zeit zu vertreiben, machte ich mich zum Sammler junior, bloß konnt' ich mich nie entscheiden, was ich sammeln wollte. Einmal waren es diese filzigen Hasen- und Bärenfamilien, eigentlich für Mädchen, dann Asterixbücher, die ich nie las. Ich sammelte und sammelte, immer nur genau so lange, dass man ausreichend Ramsch für ein Messizimmer, nie aber genug für eine Sammlung im eigentlichen Sinne zusammenbekam.
Einmal begegnete mir an einem Flohmarkt-Verkaufsstand, ich war vielleicht 8, ein Junge wieder, der dort seine Ware feilbot, lustige Taschenbücher. Die waren richtig begehrt damals, denn wenn man alle besaß und sie in der richtigen Reihenfolge nebeneinander ins Regal stellte, ergaben die Buchrücken gemeinsam ein Bild. In meiner Erinnerung sieht der Junge aus wie ein blonder Harry Potter, aber ich bin sicher, dass das nicht stimmt, meine Erinnerung lügt meistens schamloser als Donald Trump auf Twitter. Ich kannte den Kerl, er war, wie ich, eines jener Opfer, die von ihren fußballspielenden Vätern am Sonntag auf dem Spielplatz neben dem Spielfeld abgesetzt und mit billiger Currywurst ruhig gestellt wurden, wir hatten uns vielleicht ein Mal gesehen. Und dieser Junge begegnete mir auf dem Flohmarkt auf eine Art wieder, die mir bis heute nicht aus dem Kopf geht, weil er mich begrüßte wie einen alten Freund, weil er mich ansah wie einen, weil er mich kannte, obwohl wir höchstens einmal ein Paar Pommes oder einen Lacher über die schlecht in Latzhosen gekleidetete Göre geteilt hatten, die "Ich bin der Martin" gesungen hat, während wir Ed von schleckten.

Ist das nicht der Wahnsinn, dass man Fremde manchmal mit den Augen des Freundes ansieht, mit dem Premierenblick schon, dass diese namenlosen Leute (er hieß bestimmt Daniel oder Sebastian, so hießen wir damals alle) einen Samen in den Kopf pflanzen können, der "Ich kenne dich" heißt, zu "Ich raffe dich" wächst und "Ich mag dich"-Früchte tragen wird, mit dem ersten Blick? Als würde sich allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotze ein Teil fügen in einem 8 Milliarden-Teile-Puzzle, das diesen Planeten zeigt.

Ich hätte den Kerl festhalten sollen, damals, das wäre eine Weiche gewesen, die verstellt worden wäre, wenn ich die Möglichkeiten gehabt hätte, wenn damals nicht Eltern hätten hierhin und dorthin fahren müssen, um so etwas möglich zu machen, hätte ich tun sollen, wo wären wir heute, wer weiß das schon, wo hätte uns das hingebracht, wer wären wir jetzt.