Lieber M.,
Weißt du,
Die Liebe von heute ist immer noch die Liebe von gestern. Die macht bloß einen Kopfstand.
Ordnungsgemäßer Ablauf früher: Man kennt einander nicht, man lernt einander kennen, man verliebt sich, man vögelt.
Ist immer noch so. Nur eben anders herum.
Das mit dir hat so aufgehört:
Du, nackt:
Es ist schade, dass es vorbei ist, bevor es angefangen hat.
Ich, in Pullover, Mantel, Schal, mit Rucksack, der schwer ist und den es noch stärker wieder nach Hause zieht als mich: ---.
Nichts.
Wir beide in deiner Wohnung, die ein Zimmer ist, in dem es diese Küche gibt und dieses Bett und dieses Badezimmer ohne Tür. Vielleicht wäre ich geblieben, wenn es diese verdammte Tür gegeben hätte.
Vielleicht nicht.
Lieber M.,
Das mit dir hat so angefangen:
Wir schlafen. Das ist einfach, weil ich nicht reden muss. Zuerst schläfst nur du, denn ich habe dir vorgelesen. Auch das ist einfach gewesen, weil die Worte nicht meine sein mussten, auch wenn ich dir in jeder anderen Situation eine bessere Geschichte erzählt hätte als diesen Quatsch von einem traurigen Hasen, der auf dem Mond lebt oder zum Mond will oder zum Mond schaut, so genau weiß ich das nicht mehr. Aber du wolltest den Hasen. Und bist eingeschlafen. Dann irgendwann auch ich, weil deine Wohnung ein Zimmer ist und ich schneller fertig mit meinem Rundgang war als du mit deinem Traum vom Kopfstand auf dem Mond.
"Besuch mich. Ich zeig dir die Stadt. Ich koche dir was", hattest du gesagt, am Telefon, aber wir waren nicht weit gekommen. Eine russische Kirche haben wir gesehen, auf einem Berg mit russischen Touristen und russischen Pfannkuchenverkäuferinnen.
"Fahr mich heim. Ich bin zu müde. Machen wir später."
Und später: "Lies mir was vor. Das mit dem Hasen."
Und wieder später wache ich auf und du bist du und wach und überall. Deine Locken in meinem Gesicht, das gelbe Licht ist mit dir an jedem Ort und wach wie du, deine Hand in meiner Hose. Dir gefällt mein Schwanz, noch bevor ich weiß, ob mir deine Hand daran gefällt. Und ich weiß nicht, ob man sich da jetzt bedankt oder was. Ich küsse dich trotzdem, weil ich das besser kann als reden und du sagst, du wolltest mich schon, als du mich gesehen hast, wie ich da stand, am Auto, vor deiner Wohnung, die ein Zimmer ist. Dann willst du wissen, mit wie vielen Juden ich geschlafen habe, „Bei mir waren‘s erst drei“, fügst du traurig hinzu. Ich sage nicht: „Du bist mein erster“, weil das zu viele Türen auftun würde in einer Wohnung, in der es nur eine gibt, und die führt: Weg.
Du gehst in das Bad ohne Tür in diesem Zimmer ohne Wohnung, machst Musik an, die sich in meiner Erinnerung anhört wie etwas, das in Fahrstühlen gespielt wird. Irgendwo liegt ein Kondom und ich kann dich hören, viel zu menschlich, viel zu nah. Du ganz Körper, ich ganz Kopf. Ich denke an den Hasen, der auf dem Mond sein möchte.
Vielleicht bin ich wiedergekommen, weil ich die Stadt sehen wollte, deine Stadt. Vielleicht habe ich mir eingebildet, deine Tür reparieren und aus einem Zimmer eine Wohnung machen zu können. Mit einem Ort, an dem man sich beim Pinkeln verstecken könnte, deine Menschlichkeit für zwei, drei Momente aussperren. Vielleicht wollten wir da weitermachen, wo wir nie angefangen hatten, kochen und reden und Geschichten von Hasen auf dem Mond zu Ende erzählen.
Als ich ging, warst du nackt und ich nicht.
PUH. Das hat Überwindung gekostet, die Sache zu posten. Der Text ist von 2013 und ich hab ihn gestern wiedergefunden, war überrascht von mir, weil ich mich selbst nicht wiedererkannt habe (schon durchaus im Stil, aber die Gedanken wirken so fremd, als würde man einen Menschen kennenlernen, der so ganz anders ist als man selbst). Der Vollständigkeit halber, kommt er nun aber doch hier zur Ruhe. Auch wenn er sich fremd anfühlt, gehört er ja zu mir.
Du drückst das aus, was ich am Schreiben so faszinierend finde: Wir erzählen nicht nur Geschichten, wir erzählen unsere Geschichte. Auch wenn wir sie täglich neu erfinden, umarrangieren, was dazu erfinden, immer neu und anders interpretieren ... es bleibt etwas von uns, das wir uns und anderen präsentieren.
Mir geht es mit meinem ersten Buch so: Ich lese heute, manchmal peinlich berührt, manchmal angerührt, von einer jüngeren, noch unreflektierten Ausgabe von mir, von mir damals wichtigen Personen und manchmal fällt mir dazu nur das Känguru vom Kling ein:" Razupaltuff!"
Heute, rede ich mir ein, schreibe ich ganz anders, fühle ganz anders ... doch ich weiß genau: In zehn Jahren lese ich das, was ich jetzt schreibe, wieder ganz anders ... Aber: Ich hebe die Möglichkeit, etwas von mir und meinen Gedanken, Gefühlen, zu lesen, betrachte also Selfies vom eigenen Brocca-Zentrum ...
Du hast mich an anderer Stelle gefragt, warum ich schreibe: Weil ich besser schreiben als fotografieren kann. Weil ich Geschichten liebe. Weil ich Menschen und ihre Geschichte(n) liebe - so etwas wie das hier, in Deinem Blog, wo ich sehen kann, dass sich hier jemand Mühe gibt: Du beschreibst mir eine Welt, die ich so nur lesend kennen lernen kann. Danke dafür.