Radieschen gibt es auch in Griechenland, und wer sie dort von unten beäugt, so will es die antike Mythologie der Hellenen, der hat sich gefälligst zu sputen. Denn kaum ist der Grieche unter der Erde, wird er schon vom Fährmann Charon in einen Kahn geladen und nach kurzem doch wildem Ritt über tosende Wogen heißt es „Willkommen im Reich der Toten, Odysseus ist auch schon hier“. Und die Prinzessin der Herzen, Diana. Und Hitler. Das Siegerland hingegen ist nicht Griechenland, und wer da stirbt, der bleibt bei seinen Radieschen, guten Appetit. Überhaupt sind die wenigsten Gewässer dort breit oder tief genug, um nicht begummistiefelt selbstbestimmt ans andere Ufer waten zu können. Kein Wunder also, dass die Mär vom fleißigen Fährmann nicht importiert wurde, wenngleich der Siegerländer auch noch so gerne Gyros verzehrt. Wer hier, wie viele Dichter in Episoden ausbleibender Musenküsse, der niedersten Unterwelt nah sein möchte, den zieht es darum auch nicht ans Wasser, sondern auf die Autobahn, nicht mit dem Boot, sondern dem Schienenersatzverkehr. Das sieht dann zum Beispiel so aus:
Der Bus fährt ein und jeder vergisst: Da müssen Fahrgäste raus, bevor die neuen Fahrgäste reinkönnen, sonst fahren die alten ja wieder ausgerechnet nach Dillenburg zurück, und da wollten sie ja fort, und die neuen müssten obendrein entweder stehen oder aber auf verschwitzten Schenkeln Imkreisfahrender Platz nehmen. Ein stilfrei gekleideter Herr, weißgechlorbleichte Stoffhose, darin ein marineblaues Hemd mit Muster, das Herr Hades höchstselbst in seiner Kindergartenzeit ersonnen haben muss, sieht das nicht ein. Schweißperlen treten auf die kreisrund erkahlte Kopfhaut, die einst fettigem Haar Asyl bot, als ein jugendlicher Fahrgast sich an ihm, hineindrängend, vorbeidrängend in die Sicherheit des Zielbahnhofs zu schieben versucht. Da wird's dem Alten auch schon zu bunt, er boxt den Ellbogen, Alter vor Schönheit, und damit den Jungen aus dem Bus. Eine Menschentraube - in solchen Momenten unheiterer Zusammenkunft stets für einen Terroranschlag gewappnet - formiert sich pfeilschnell und Zugvögeln gleich zu einer Manege, in deren Mitte der gepeinigte Aussteiger nun nicht weiß, wie ihm geschieht. Aus dem Bus die heisere Stimme des Einsteigers: "Erst reinlassen, dann aussteigen" (Deutsches SEV GB Paragraph 12 Absatz 6b). Die Schaulustigen kramen irritiert in ihren Taschen, einige um Handyvideos bemüht, andere, um den Gesetzestext nachzulesen. "Da muss man ja net gleich zuschlagen" bäumt der gepeitschte Tiger sich auf. "Ich kann dir auch auf die Fresse schlagen" entgegnet sein Dompteur. Nun aber schnell alle einsteigen, hier müssen ja Fahrzeiten eingehalten werden. Charon, seines Zeichens zahnloser Busfahrer mit bildungsfernem Familienhintergrund, kurbelt das Fenster herunter und schnauzt: "Noch nie was von Reißtverschließverfahrung gehört, du Spasti?". Totenstille im Omnibus. Ein Fahrgast älteren Semesters schließlich durchbricht das Schweigen, erkundigt sich beim Sitznachbarn, was denn bloß ein Spasti sei, doch wird die Schulung übertönt von Andreas Gaballier, der aus dem Radio und dank modernster Technologie auch (vielleicht etwas übersteuert) aus der Mikrofonanlage von einer besseren Welt singt. Auch der zornige Kahle singt mit, während die Finger ein Radieschen aus der Plastikdose fischen, und schon ist der Omnibus wieder auf der din-genormten deutschen Autobahn unterwegs. A45, A wie Acheron, und die Sonne lacht überm Westerwald.
Die Küche lebt vom Applaus. Sie ist der Star der Party. Der Ort, an dem Ideen geboren werden, bierschwanger. Die Coverband "Jeder Ton kein Treffer", zum Beispiel. Warum. Warum eigentlich. Warum eigentlich hier. Warum trifft man sich nicht zum Beispiel im Wohnzimmer, englisch: Living Room. Da steckt doch das Leben schon drin, und nicht in der Küche, wo gegebenenfalls Bioabfall stinkt oder der Limburger aus der Kühlung, wenn einer noch ein Bier holt oder zwölf für alle, die hier lachen, zusammengepfercht auf dem nachlässig gewischten Boden vor dem Ofen, und nicht im Wohnzimmer, bei dem einen, der auf grindr nach Anschluss sucht und immer noch nicht bemerkt hat, allein zu sein.
In der Küche meiner einen Oma spielte ich Elfer Raus, lernte Schach und überredete sie - Druckmittel Tränen - die traurigen beigegrauen Papierränder der lokalen Tageszeitung mit Kugelschreiber in meterlange Züge und Entenfamilien umzugestalten. In der Küche der anderen Oma gab es Zitronenlimonade zur Kartoffelsuppe und auf ihrem Schoß piekste manchmal ein vergessenes weißes Haar auf ihrem Kinn in meine Wange.
Ich schreibe einen Aufsatz, Argumentation. Sammle brav Pro und Contra, auf der gliedernden Liste dazwischen ein Strich. Fragestellung: „Ob unser lieber blauer Globus zu Neujahr nicht besser zu einem Haufen Staub, Asche und Scheiße zerfallen wäre“, Fragezeichen. Untertitel: „ 2015, du leckst mich jetzt bitte mal da, wo die Sonne nicht hinscheint“, Interpunktion. Die sogenannte Proseite ist lang und reich an Spiegelstrichen. Auf der sogenannten Contraseite: Wenig. Einsam, aber kampfbereit patrouilliert da ein Junge, läuft auf und ab über gähnende Leere, raucht Kette dabei, singt schief und flucht „Hurensohn“, während die Liste gedeiht gegenüber. Auf dem Strich in der Mitte ich, wie ein ungelenker Seiltänzer mit ausgestreckten Armen auf der Kugelschreiberspur, den Berg aus Gründen hinter mir und den Jungen im Auge, der bis hier oben nach Solero-Eis riecht, auch nach der fünfzigsten Kippe („Es waren heute nur vier“), und aufgeregt ist, immer noch, wenn ich nach unten schaue auf ihn und er nach oben auf mich und der schlechter ist mit Worten. Mein Text: Drei Worte. Seiner dann: „Auch“. Kein Redner, der, ein Krieger, stattdessen, schmeißt Bierflaschen nach Argumenten dafür, kampferprobt. Hat geübt, schon vor Jahren auf Parkplätzen, bis ihm ein Schlag die Zahnspange verbeulte. Kämpft jetzt in meinem Team, Team sogenannte Contraseite sollen wir heißen, und 2015 kann uns dann beide mal da, wo die Sonne nicht scheint.