Samstag, 21. September 2019
Trödelmoment

Was ich noch weiß:

Mein Opa war Sammler, Gesangbücher, deshalb trieb er sich auf Flohmärkten herum, und ich durfte mit, oft. Um mir die Zeit zu vertreiben, machte ich mich zum Sammler junior, bloß konnt' ich mich nie entscheiden, was ich sammeln wollte. Einmal waren es diese filzigen Hasen- und Bärenfamilien, eigentlich für Mädchen, dann Asterixbücher, die ich nie las. Ich sammelte und sammelte, immer nur genau so lange, dass man ausreichend Ramsch für ein Messizimmer, nie aber genug für eine Sammlung im eigentlichen Sinne zusammenbekam.
Einmal begegnete mir an einem Flohmarkt-Verkaufsstand, ich war vielleicht 8, ein Junge wieder, der dort seine Ware feilbot, lustige Taschenbücher. Die waren richtig begehrt damals, denn wenn man alle besaß und sie in der richtigen Reihenfolge nebeneinander ins Regal stellte, ergaben die Buchrücken gemeinsam ein Bild. In meiner Erinnerung sieht der Junge aus wie ein blonder Harry Potter, aber ich bin sicher, dass das nicht stimmt, meine Erinnerung lügt meistens schamloser als Donald Trump auf Twitter. Ich kannte den Kerl, er war, wie ich, eines jener Opfer, die von ihren fußballspielenden Vätern am Sonntag auf dem Spielplatz neben dem Spielfeld abgesetzt und mit billiger Currywurst ruhig gestellt wurden, wir hatten uns vielleicht ein Mal gesehen. Und dieser Junge begegnete mir auf dem Flohmarkt auf eine Art wieder, die mir bis heute nicht aus dem Kopf geht, weil er mich begrüßte wie einen alten Freund, weil er mich ansah wie einen, weil er mich kannte, obwohl wir höchstens einmal ein Paar Pommes oder einen Lacher über die schlecht in Latzhosen gekleidetete Göre geteilt hatten, die "Ich bin der Martin" gesungen hat, während wir Ed von schleckten.

Ist das nicht der Wahnsinn, dass man Fremde manchmal mit den Augen des Freundes ansieht, mit dem Premierenblick schon, dass diese namenlosen Leute (er hieß bestimmt Daniel oder Sebastian, so hießen wir damals alle) einen Samen in den Kopf pflanzen können, der "Ich kenne dich" heißt, zu "Ich raffe dich" wächst und "Ich mag dich"-Früchte tragen wird, mit dem ersten Blick? Als würde sich allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotze ein Teil fügen in einem 8 Milliarden-Teile-Puzzle, das diesen Planeten zeigt.

Ich hätte den Kerl festhalten sollen, damals, das wäre eine Weiche gewesen, die verstellt worden wäre, wenn ich die Möglichkeiten gehabt hätte, wenn damals nicht Eltern hätten hierhin und dorthin fahren müssen, um so etwas möglich zu machen, hätte ich tun sollen, wo wären wir heute, wer weiß das schon, wo hätte uns das hingebracht, wer wären wir jetzt.



Samstag, 14. September 2019
Charon auf der Sieg

Radieschen gibt es auch in Griechenland, und wer sie dort von unten beäugt, so will es die antike Mythologie der Hellenen, der hat sich gefälligst zu sputen. Denn kaum ist der Grieche unter der Erde, wird er schon vom Fährmann Charon in einen Kahn geladen und nach kurzem doch wildem Ritt über tosende Wogen heißt es „Willkommen im Reich der Toten, Odysseus ist auch schon hier“. Und die Prinzessin der Herzen, Diana. Und Hitler. Das Siegerland hingegen ist nicht Griechenland, und wer da stirbt, der bleibt bei seinen Radieschen, guten Appetit. Überhaupt sind die wenigsten Gewässer dort breit oder tief genug, um nicht begummistiefelt selbstbestimmt ans andere Ufer waten zu können. Kein Wunder also, dass die Mär vom fleißigen Fährmann nicht importiert wurde, wenngleich der Siegerländer auch noch so gerne Gyros verzehrt. Wer hier, wie viele Dichter in Episoden ausbleibender Musenküsse, der niedersten Unterwelt nah sein möchte, den zieht es darum auch nicht ans Wasser, sondern auf die Autobahn, nicht mit dem Boot, sondern dem Schienenersatzverkehr. Das sieht dann zum Beispiel so aus:

Der Bus fährt ein und jeder vergisst: Da müssen Fahrgäste raus, bevor die neuen Fahrgäste reinkönnen, sonst fahren die alten ja wieder ausgerechnet nach Dillenburg zurück, und da wollten sie ja fort, und die neuen müssten obendrein entweder stehen oder aber auf verschwitzten Schenkeln Imkreisfahrender Platz nehmen. Ein stilfrei gekleideter Herr, weißgechlorbleichte Stoffhose, darin ein marineblaues Hemd mit Muster, das Herr Hades höchstselbst in seiner Kindergartenzeit ersonnen haben muss, sieht das nicht ein. Schweißperlen treten auf die kreisrund erkahlte Kopfhaut, die einst fettigem Haar Asyl bot, als ein jugendlicher Fahrgast sich an ihm, hineindrängend, vorbeidrängend in die Sicherheit des Zielbahnhofs zu schieben versucht. Da wird's dem Alten auch schon zu bunt, er boxt den Ellbogen, Alter vor Schönheit, und damit den Jungen aus dem Bus. Eine Menschentraube - in solchen Momenten unheiterer Zusammenkunft stets für einen Terroranschlag gewappnet - formiert sich pfeilschnell und Zugvögeln gleich zu einer Manege, in deren Mitte der gepeinigte Aussteiger nun nicht weiß, wie ihm geschieht. Aus dem Bus die heisere Stimme des Einsteigers: "Erst reinlassen, dann aussteigen" (Deutsches SEV GB Paragraph 12 Absatz 6b). Die Schaulustigen kramen irritiert in ihren Taschen, einige um Handyvideos bemüht, andere, um den Gesetzestext nachzulesen. "Da muss man ja net gleich zuschlagen" bäumt der gepeitschte Tiger sich auf. "Ich kann dir auch auf die Fresse schlagen" entgegnet sein Dompteur. Nun aber schnell alle einsteigen, hier müssen ja Fahrzeiten eingehalten werden. Charon, seines Zeichens zahnloser Busfahrer mit bildungsfernem Familienhintergrund, kurbelt das Fenster herunter und schnauzt: "Noch nie was von Reißtverschließverfahrung gehört, du Spasti?". Totenstille im Omnibus. Ein Fahrgast älteren Semesters schließlich durchbricht das Schweigen, erkundigt sich beim Sitznachbarn, was denn bloß ein Spasti sei, doch wird die Schulung übertönt von Andreas Gaballier, der aus dem Radio und dank modernster Technologie auch (vielleicht etwas übersteuert) aus der Mikrofonanlage von einer besseren Welt singt. Auch der zornige Kahle singt mit, während die Finger ein Radieschen aus der Plastikdose fischen, und schon ist der Omnibus wieder auf der din-genormten deutschen Autobahn unterwegs. A45, A wie Acheron, und die Sonne lacht überm Westerwald.



Freitag, 13. September 2019
Zwischen Thermomix und Toaster

Die Küche lebt vom Applaus. Sie ist der Star der Party. Der Ort, an dem Ideen geboren werden, bierschwanger. Die Coverband "Jeder Ton kein Treffer", zum Beispiel. Warum. Warum eigentlich. Warum eigentlich hier. Warum trifft man sich nicht zum Beispiel im Wohnzimmer, englisch: Living Room. Da steckt doch das Leben schon drin, und nicht in der Küche, wo gegebenenfalls Bioabfall stinkt oder der Limburger aus der Kühlung, wenn einer noch ein Bier holt oder zwölf für alle, die hier lachen, zusammengepfercht auf dem nachlässig gewischten Boden vor dem Ofen, und nicht im Wohnzimmer, bei dem einen, der auf grindr nach Anschluss sucht und immer noch nicht bemerkt hat, allein zu sein.
In der Küche meiner einen Oma spielte ich Elfer Raus, lernte Schach und überredete sie - Druckmittel Tränen - die traurigen beigegrauen Papierränder der lokalen Tageszeitung mit Kugelschreiber in meterlange Züge und Entenfamilien umzugestalten. In der Küche der anderen Oma gab es Zitronenlimonade zur Kartoffelsuppe und auf ihrem Schoß piekste manchmal ein vergessenes weißes Haar auf ihrem Kinn in meine Wange.