Mittwoch, 9. Oktober 2019
Herbstfeuer

Winterzeit ist Kuschelzeit!
johlen die Bäume
betrunken vom Regen
und werfen die festiven
Kleider vom Leib

Doch weil keiner kommt
und sich an ihnen reibt
außer der Wildsau, der groben
ziehen sie schließlich
nach einem frostigen Tänzchen
im Frühjahr sich wieder an



Samstag, 21. September 2019
Trödelmoment

Was ich noch weiß:

Mein Opa war Sammler, Gesangbücher, deshalb trieb er sich auf Flohmärkten herum, und ich durfte mit, oft. Um mir die Zeit zu vertreiben, machte ich mich zum Sammler junior, bloß konnt' ich mich nie entscheiden, was ich sammeln wollte. Einmal waren es diese filzigen Hasen- und Bärenfamilien, eigentlich für Mädchen, dann Asterixbücher, die ich nie las. Ich sammelte und sammelte, immer nur genau so lange, dass man ausreichend Ramsch für ein Messizimmer, nie aber genug für eine Sammlung im eigentlichen Sinne zusammenbekam.
Einmal begegnete mir an einem Flohmarkt-Verkaufsstand, ich war vielleicht 8, ein Junge wieder, der dort seine Ware feilbot, lustige Taschenbücher. Die waren richtig begehrt damals, denn wenn man alle besaß und sie in der richtigen Reihenfolge nebeneinander ins Regal stellte, ergaben die Buchrücken gemeinsam ein Bild. In meiner Erinnerung sieht der Junge aus wie ein blonder Harry Potter, aber ich bin sicher, dass das nicht stimmt, meine Erinnerung lügt meistens schamloser als Donald Trump auf Twitter. Ich kannte den Kerl, er war, wie ich, eines jener Opfer, die von ihren fußballspielenden Vätern am Sonntag auf dem Spielplatz neben dem Spielfeld abgesetzt und mit billiger Currywurst ruhig gestellt wurden, wir hatten uns vielleicht ein Mal gesehen. Und dieser Junge begegnete mir auf dem Flohmarkt auf eine Art wieder, die mir bis heute nicht aus dem Kopf geht, weil er mich begrüßte wie einen alten Freund, weil er mich ansah wie einen, weil er mich kannte, obwohl wir höchstens einmal ein Paar Pommes oder einen Lacher über die schlecht in Latzhosen gekleidetete Göre geteilt hatten, die "Ich bin der Martin" gesungen hat, während wir Ed von schleckten.

Ist das nicht der Wahnsinn, dass man Fremde manchmal mit den Augen des Freundes ansieht, mit dem Premierenblick schon, dass diese namenlosen Leute (er hieß bestimmt Daniel oder Sebastian, so hießen wir damals alle) einen Samen in den Kopf pflanzen können, der "Ich kenne dich" heißt, zu "Ich raffe dich" wächst und "Ich mag dich"-Früchte tragen wird, mit dem ersten Blick? Als würde sich allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotze ein Teil fügen in einem 8 Milliarden-Teile-Puzzle, das diesen Planeten zeigt.

Ich hätte den Kerl festhalten sollen, damals, das wäre eine Weiche gewesen, die verstellt worden wäre, wenn ich die Möglichkeiten gehabt hätte, wenn damals nicht Eltern hätten hierhin und dorthin fahren müssen, um so etwas möglich zu machen, hätte ich tun sollen, wo wären wir heute, wer weiß das schon, wo hätte uns das hingebracht, wer wären wir jetzt.



Freitag, 13. September 2019
Zwischen Thermomix und Toaster

Die Küche lebt vom Applaus. Sie ist der Star der Party. Der Ort, an dem Ideen geboren werden, bierschwanger. Die Coverband "Jeder Ton kein Treffer", zum Beispiel. Warum. Warum eigentlich. Warum eigentlich hier. Warum trifft man sich nicht zum Beispiel im Wohnzimmer, englisch: Living Room. Da steckt doch das Leben schon drin, und nicht in der Küche, wo gegebenenfalls Bioabfall stinkt oder der Limburger aus der Kühlung, wenn einer noch ein Bier holt oder zwölf für alle, die hier lachen, zusammengepfercht auf dem nachlässig gewischten Boden vor dem Ofen, und nicht im Wohnzimmer, bei dem einen, der auf grindr nach Anschluss sucht und immer noch nicht bemerkt hat, allein zu sein.
In der Küche meiner einen Oma spielte ich Elfer Raus, lernte Schach und überredete sie - Druckmittel Tränen - die traurigen beigegrauen Papierränder der lokalen Tageszeitung mit Kugelschreiber in meterlange Züge und Entenfamilien umzugestalten. In der Küche der anderen Oma gab es Zitronenlimonade zur Kartoffelsuppe und auf ihrem Schoß piekste manchmal ein vergessenes weißes Haar auf ihrem Kinn in meine Wange.



Donnerstag, 12. September 2019
Zwo Null Eins Fünf

Ich schreibe einen Aufsatz, Argumentation. Sammle brav Pro und Contra, auf der gliedernden Liste dazwischen ein Strich. Fragestellung: „Ob unser lieber blauer Globus zu Neujahr nicht besser zu einem Haufen Staub, Asche und Scheiße zerfallen wäre“, Fragezeichen. Untertitel: „ 2015, du leckst mich jetzt bitte mal da, wo die Sonne nicht hinscheint“, Interpunktion. Die sogenannte Proseite ist lang und reich an Spiegelstrichen. Auf der sogenannten Contraseite: Wenig. Einsam, aber kampfbereit patrouilliert da ein Junge, läuft auf und ab über gähnende Leere, raucht Kette dabei, singt schief und flucht „Hurensohn“, während die Liste gedeiht gegenüber. Auf dem Strich in der Mitte ich, wie ein ungelenker Seiltänzer mit ausgestreckten Armen auf der Kugelschreiberspur, den Berg aus Gründen hinter mir und den Jungen im Auge, der bis hier oben nach Solero-Eis riecht, auch nach der fünfzigsten Kippe („Es waren heute nur vier“), und aufgeregt ist, immer noch, wenn ich nach unten schaue auf ihn und er nach oben auf mich und der schlechter ist mit Worten. Mein Text: Drei Worte. Seiner dann: „Auch“. Kein Redner, der, ein Krieger, stattdessen, schmeißt Bierflaschen nach Argumenten dafür, kampferprobt. Hat geübt, schon vor Jahren auf Parkplätzen, bis ihm ein Schlag die Zahnspange verbeulte. Kämpft jetzt in meinem Team, Team sogenannte Contraseite sollen wir heißen, und 2015 kann uns dann beide mal da, wo die Sonne nicht scheint.